Jamileh Kadivar, geboren in Fasa, ist eine iranische Politikerin und Aktivistin und ein ehemaliges Mitglied des Parlaments. Sie war bis Ende 2011 Chefredakteurin der Website „Grünen Bewegung“ (jaras).
Bei www.majalla.com veröffentlichte Jamileh Kadivar den folgenden Artikel, der von Hamid Beheschti übersetzt und bei tlaxcala-int.org veröffentlicht wurde.
Hat Ägypten eine Revolution erlebt oder nur den Sturz Mubaraks?
Ob man das, was vor zwei Jahren in Ägypten am 25. Januar begann und am 11. Februar zum Sturz Husni Mubaraks, den Präsidenten auf Lebenszeit, führte, für eine Revolution halten kann oder nicht, ist umstritten.
Wenn wir Revolutionen für ein gesellschaftliches Phänomen halten, das zu gründlichen und radikalen Veränderungen in verschiedenen Bereichen wie Politik, Gesellschaft, Ökonomie, Kultur und Ideologie führt und sich mit Anteilnahme der Bevölkerung vollzieht, dann kann man sagen:
Was in Ägypten geschah, ist nicht nur ohne Veränderungen der vorherrschenden Werte gelaufen, sondern hat bis auf eine Veränderung der Regierenden und eine Reihe politischer Freiheiten, die es mit sich brachte, gar keine Veränderungen hervorgerufen. Daher denken manche, dass man den Sturz Mubaraks nur für das Ende einer Epoche halten kann, das einige Veränderungen wie die Ausschaltung des Militärs aus der Politik und der Präsidentschaft und die Wahl eines zivilen Präsidenten zur Folge hat.
Der ägyptische Schriftsteller Fahmi Howeid meint über die Errungenschaften der letzten zwei Jahre: „die Umwälzungen in Ägypten haben die arabische Welt aus dem Widerstand gegen die Kolonialherrschaft zum Widerstand gegen die Despotie und die soziale Ungerechtigkeit bewegt… Außenpolitisch hat Ägypten die Allianz mit Israel gegen den palästinensischen Widerstand gebrochen, was zu einer Klärung seiner Position gegenüber den Widerstandsbewegungen führte. Innenpolitisch sind die allgemeinen und politischen Freiheiten dermaßen gestärkt worden, dass die Demonstrationen sogar den Vorhof des Verfassungsgerichtes und den Sitz des Präsidialamtes erreicht haben. Die Menschen haben mitbekommen, dass sie nicht nur Teil der Gesellschaft, sondern deren wichtigsten Bestandteile sind.“
Trotz all dem stehen nach wie vor Ungerechtigkeit und Korruption immer noch an der Tagesordnung. Die im wirtschaftlichen Bereich versprochene Einführung des Mindestlohnes, sowie die Verbesserung des Schul- und Bildungswesens und die Bestrafung der Verbrecher sind nicht umgesetzt worden. Dies hat zu weiteren Unzufriedenheiten unter der Bevölkerung geführt. Im Zuge der anfänglichen Begeisterung, bezeichneten alle die Wende in Ägypten als eine Revolution; aber das Fehlen einer tief greifenden Umwandlung der herrschenden Werte und der mächtigen Institutionen einerseits und die autoritären Machenschaften Mursis und der Muslimbruderschaft andererseits brachten andere Begriffe wie „die postdiktatorische Zeit“ oder die „unvollendete Revolution“ für die nach Mubarak eingetretenen Veränderungen hervor.
So sind manche allmählich zur Überzeugung gekommen, dass, was in Ägypten geschah, keine vollendete Revolution ist. Nicht nur, weil nach Mubaraks Sturz der Oberste Militärrat an die Macht kam – genau dieselben Menschen, die schon unter Mubarak das Sagen hatten – sondern auch, weil die erwartete Umwandlung immer noch auf sich warten lässt. Daher wurden jene, die von Anfang an das Militär vertreiben wollten, stets ungeduldiger. Auch die Zahl ihrer Gegner stieg und im zweiten Jahr nach dem Aufstand wurden Dutzende von Menschen wegen Anliegen, die sie früher gar nicht hatten, nun verletzt bzw. getötet. Und das war der Funke, der das Feuer der Krise auslöste, die mit einem Funken Feuer fing. Es sah so aus, als hätten die Menschen nur auf diesen Anlass gewartet.
Um das Geschehene zusammenzufassen, müssen wir zuerst auf die Entwicklung dieser Tage kurz zurückblicken:
1 – Eine Gruppe Menschen haben sich anlässlich des 2. Jahrestages des Aufstands auf dem Tahrirplatz und an anderen Orten versammelt, was zu einzelnen Zusammenstößen führte, wobei einige Demonstranten verwundet wurden. Am selben Tag, hat sich eine Gruppe schwarz gekleideter und maskierter Menschen, die sich als „der schwarze Haufen“ oder als „Black Block“ gab, unter die Demonstranten gemischt, und regimefeindliche Parolen skandiert. Im Internet lautete ihr Spruch: „Die friedlichen Demonstrationen sind vorbei und werden nie wiederkommen“. Dieser Haufen hat hier und da Angriffe gestartet und auch Brand gestiftet.
Unmittelbar nach den Freitagsdemonstrationen haben die neuen Protestwellen begonnen, als am Samstag 21 Personen, die wegen angeblicher Mittäterschaft an der Ermordung von 74 Menschen anlässlich der Krawalle, die vergangenes Jahr nach einem Fußballspiel in Port Said stattgefunden hatten, zum Tode verurteilt wurden. Bei diesen Protesten kamen einige ums Leben und andere wurden verletzt.
2 – Der ägyptische Präsident hat infolge von neuen Gewalttaten in den Provinzen Suez, Port Said und Ismailia für 30 Tage den Ausnahmezustand ausgerufen. Nachdem Mursi diese Maßnahme verkündet hatte, haben die Einwohner der drei Provinzen gegen ihn demonstriert und seinen Rücktritt gefordert.
3 – Die ägyptische Regierung hat zur Wiederherstellung der Ordnungim Land die Festnahme von Zivilisten der Armee übertragen, um die Polizei dabei zu unterstützen. Die Festnahme von Zivilisten durch die Armee wurde erst dann erlaubt, als sich die Anzahl von Toten bei den Demonstranten in den letzten Tagen die 50 überstieg.
4 – Parallel zur Repression der Unruhen hat Mursi auf dem Dialog mit den Oppositionsführern bestanden und jene aufgefordert, sich an einem Treffen am Samstag den 28. Januar, zu beteiligen. Dies haben aber manche von ihnen abgelehnt.
5 – Angesichts der Proteste gegen die Ausrufung des Ausnahmezustands in den drei ägyptischen Provinzen hat es sich der Staatspräsident anders überlegt und die Entscheidung den Gouverneuren überlassen.
6 – Vor zwei Tagen (am 29. Januar) hat der ägyptische Verteidigungsminister Abdelfattah As-Sisi betont, dass die Armee „als der Grundpfeiler des Staates stark bleibt“. Er gab zu bedenken, dass die Streitigkeiten zwischen den politischen Kräften und ihre Zwietracht bei der Führung des Landes zum Zusammenbruch des Staates und Scheitern der Regierung führen und hiermit die zukünftigen Generationen gefährden könne. Ohne ein wirksames Eingreifen der Politiker kann die Krise, in der das Land steckt, nicht überwunden werden und das könnte schwere Folgen haben. Die Destabilisierung der Regierungsinstanzen sei eine ominöse, bedenkliche Sache und könne die Sicherheit des Landes und die Zukunft des Staates gefährden. Diese Aussagen können als eine Warnung an alle politischen Kräften aufgefasst werden, und sind auch ein Fingerzeig aufdie historische Rolle der Armee bei den politischen Verhältnissen in Ägypten.
7 – Angesichts der Warnung des Verteidigungsministers haben Muhammed el-Baradei und Amr Mussa, beide in der Führung der nationalen Heilsfront, die Eröffnung eines Dialogs mit Mursi gefordert.
8 – Der Präsident hatte vor, nach seinem Besuch in Deutschland auch nach Frankreich zu reisen, hat den Besuch in Paris aber aufgeschoben und seinen Aufenthalt in Deutschland verkürzt.
9 – Ayman Nur, der Vorsitzende der ägyptischen Partei „Ghad al Thawra“ (Zukunft der Revolution) hat vor einem Bürgerkrieg in seinem Land gewarnt und hinzugefügt: „Die Krise hat sich nun so weit entwickelt, dass sie uns immer weiter in die Richtung der Zwietracht und des Bürgerkriegs schiebt.“
Aus den genannten Zusammenhängen der gegenwärtigen Entwicklung in Ägypten kann man schließen, dass die Umwandlungen in Ägypten in eine neue Phase getreten sind; eine Phase, die einen tiefen sozialen Bruch offen legt und mit Recht besorgniserregend wirkt. Auf der einen Seite der sozialen und politischen Kluft stehen die Kräfte, die die Revolution für vollendet erachten und versuchen, die Macht zu stabilisieren und unter sich zu teilen sowie neue Institutionen zu schaffen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die die Revolution für unvollendet halten. Sie bestehen hauptsächlich aus liberalen, säkularen und linken Gruppen und aus den Jugendlichen vom 6. April sowie aus vielen Menschen, die an den Früchten der Revolution keinen Anteil bekamen. Manche sehen sogar in den gegenwärtigen Protesten den möglichen Beginn einer Revolution gegen Muhammad Mursi und die Muslimbruderschaft. Traut man den jüngsten Erklärungen der Befürworter und Gegner, von der normalen Bevölkerung bis hin zu den Politikern, so kann eine tiefe Kluft festgestellt werden.
Daraus folgt, dass die neue Entwicklung in Ägypten, die im zweiten Jahr nach dem Aufstand entstanden ist, in welchen Worten und Begriffen sie auch immer ausgedrückt wird – ob man sie als Weiterführung, Reformversuch oder als Vollendung der Revolution, als unvollendet, als eine erneute Revolution mit der Forderung einer Reform, als ein blinder Protest, als Beginn des Bürgerkriegs, als ein nutzloser Aufstand, als das Scheitern einer unerfahrenen Regierung in der Führung der Gesellschaft oder als Ausnutzung der dargebotenen Gelegenheit für eigene Zwecke durch die Opposition auffasst, kann bei allen ein wichtiger Aspekt festgestellt werden, und zwar die steigende Angst vor unkontrollierbaren Ereignissen in diesem Land, deren Funke durch den Verteidigungsminister ausgelöst wurde, und die dann mit den Dialogforderungen El-Baradeis und Mussas weiterging und durch den unterbrochenen Besuch Mursis bestätigt wurde.
Heute liegen die blutigen Ereignisse in Syrien als Schaubühne der Unbarmherzigkeit und der Gewaltanwendung auf beiden Seiten und des Leidens von Millionen SyrerInnen vor den Augen der ägyptischen Regierung, Armee und verschiedener politischer Gruppen. Darüber herrscht kein Zweifel: Wenn die verschiedenen Seiten der an der ägyptischen Krise Beteiligten die nötige Aufmerksamkeit für die Kontrolle der Krise und die Verbesserung der Situation durch die Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit nicht aufbringen, darf man annehmen, dass die syrischen Verhältnisse sich in Ägypten wiederholen und eine Revolution, die als ein Symbol der Nicht-Gewalttätigkeit galt, von den zukünftigen Generationen als Symbol für Unwissenheit, Ignoranz und Unbesonnenheit aufgefasst wird.
Linkverweise:
Wie Rothschild’s inszenierte Revolutionen in Tunesien und Ägypten die islamischen Banken in den entstehenden Märkten Nordafrikas vernichten könnten.
Ägypten: Junge Frauen, die von Soldaten angegriffen, geschlagen und nackt ausgezogen werden
Tunesien, Ägypten, Bahrein – alternative Gedanken – wie geht’s weiter?
Gaza? Wer hier Fragen stellt, kann nur ein “Antisemit” sein und ist somit untragbar.
Spenden-Aufruf: Der kleine Nazareno
In Brasilien leben ungefähr 25.000 Kinder völlig verwahrlost auf der Straße. Jeden Tag kämpfen sie um ihr Überleben, und gegen die Realität: Hunger, Kälte, Prostitution und Drogen – dabei leben sie in ständiger Angst vor gewalttätigen Übergriffen von Banden und der Polizei. Maria Lourdes und Lupo Cattivo unterstützen den kleinen Nazareno mit einer Patenschaft!
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5 Comments
desillisionist
Vielen dank für deine Analyse. Ich bin voll bei Dir. Dazu ist mir bekannt, dass es in der BRiD bereits Ansätze von gemeinsamen Zielvereinbarungen verschiedener Bevölkerungsgruppen gibt. Diese werden genau dafür geschaffen, eine „fremd-geschaffene“ Situation übernehmen zu können.
Hans-im-Glück
Ich versuche mal, ausgehend von „meinem Verständnis“ der Ereignisse in Ägypten, ein paar Schlußfolgerungen daraus zu formulieren, als „Meckerbasis“ für eine Erörterung – wie immer ohne Anspruch auf „Richtigkeit“, Vollständigkeit etc.
Ich halte es jedoch für sinnvoll, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, um ggf. Ableitungen für mögliche künftige Ereignisse bei uns zu treffen.
1. Offensichtlich sind die Veränderungen in Ägypten zwar von außen (die sattsam bekannten „Dienste“) unterstützt worden, aber in der Heftigkeit und Tiefe der Umwälzung von den Handlangern der Hochfinanz wohl unterschätzt worden.
Vielleicht stand auch „nur“ die Aufgabe, Mubarak zu entmachten und eine möglichst unsichere Atmosphäre zu schaffen, die einen Übergang zu einer Militärdiktatur rechtfertigen würde.
Dieses Szenario ist offensichtlich nur teilweise umgesetzt – momentan wird (mithilfe des „Black Block“ u.a. Kräfte) daran gearbeitet „nachzutaroggen“.
2. Die politischen Kräfte im Lande wurden von der Heftigkeit (und wohl auch vom Zeitpunkt) der Ereignisse überrascht – sie haben schnell reagiert und die organisatorische Kontrolle über die Volksmassen übernommen und damit das von außen angestrebte Chaos verhindert.
Gleichzeitig war jedoch offensichtlich kein eigenes Konzept, keine geistige Führung, keine klare Vorstellung vom zu erreichenden Ziel vorhanden, um das temporäre Machtvakuum auszufüllen und ein paar energische Schritte nach vorn zu einem wirklich neuen politischen System zu machen.
So blieb das politische System insgesamt weitgehend unangetastet und es wurden nur wenige „notwendigste“ Basis-Reformen (Wahlrecht etc.) erreicht.
3. Die Militärs im Lande sind zum Glück konsequent auf der Seite des eigenen Volkes – egal wer die Macht hat. Sie wollen für Ordnung im Lande sorgen und für Sicherheit, damit die Gesellschaft „funktionieren“ kann.
Eine „starke Haltung“ nehmen sie offensichtlich nicht ein – momentan wird versucht, sie durch die Dynamik der Ereignisse (daran „arbeiten“ die ausländischen „Dienste“) zu einer offenen Machtübernahme verleiten – bisher sträuben sie sich aber.
Was lehrt uns das?
a) Jede Veränderung braucht klare Zielvorstellungen (einschließlich der ersten konkreten Schritte, die auf dem Wege dahin zu gehen sind!) und Menschen, die diese artikulieren, unter das Volk bringen (eine Organisation? oder reicht eine „Graswurzelbewegung“?) und auch welche, die bereit sind, sich an die Spitze zu stellen (letzteres können allerdings kaum Repräsentanten des bisherigen Systems sein).
b) Etwas beseitigen wollen ist ein Ziel, aber es führt nirgendwohin – denn was tut man, wenn DAS beseitigt ist?
Die eigenen Zielvorstellungen müssen also stets positiv sein – sie sollten immer darauf ausgerichtet sein, möglichst wenig zu zerstören, was man dann wieder benötigt, d.h. das Bewahrenswerte sollte von vorn herein klar bekannt und benannt sein – und auch während jeglicher Umwälzungen aktiv geschützt werden.
c) Ein äußerer Einfluß, so „geldreich“ er auch zur Wirkung kommt, kann zu bestimmten Zeiten völlig hilflos sein – wenn etwas „nicht so läuft wie vorgesehen“, d.h. die Dynamik der Ereignisse die „Vorbereitungen“ überspült.
Diese Momente müssen erkannt und genutzt werden, um eigene Vorstellungen und konkrete Veränderungen zu etablieren.
d) Es its eminent wichtig, ALLE möglichen Verbündeten, auch und vor allem diejenigen, die anfangs als „Feinde“ erschienen sind, einzubeziehen und mit ihnen möglichst weitgehend „gemeinsame Sache“ zu machen.
Die Gemeinsamkeiten sind viel größer als manche/r glauben mag…
e) Wie sich aus dem oben Gesagten ergibt, sind Wut, Haß und Zorn nicht die richtigen Ratgeber – weder für die Denker und Lenker von Veränderungen, noch für die Organisatoren und Macher; und auch nicht für die Ausführenden – zu leicht wird „zuviel Porzellan zerschlagen“…
Emotionen ja, Kampfgeist und Durchhaltevermögen auch, aber immer gepaart mit kluger Überlegung, klarer Analyse und richtigen Schlußfolgerungen für die nächsten Schritte. Je mehr und besser vorher „vorausgedacht“ wurde und „unterwegs“ mitgedacht wird, desto besser und einfacher tut man sich dann „in der Bewegung“.
Vielleicht erstemal soviel? Ich hoffe auf Antworten…
Maria Lourdes
Vielen Dank Hans für die Mitarbeit, sagt Maria Lourdes!
edith.schloesser@t-online.de
… und wo ist der Text ?
Von: lupo cattivo – gegen die Weltherrschaft
Maria Lourdes
Der Text ist doch da!